Borussia wurde mir nicht in die Wiege gelegt. Für meine Mama war Fußball seit ihrer Kindheit ein rotes Tuch. Als einziges Mädel mit vier Brüdern musste sie jedes Wochenende hinter König Fußball zurückstecken. Auch mein Papa hat mich nicht mit ins Stadion genommen. Borussia lag ihm (noch) fern und unsere Berliner Heimat lag noch weiter weg vom Westfalenstadion.

In meinem kindlichen Empfinden hätten Dortmund und der heilige Fussballtempel auch auf dem Mond liegen können. Die Wahrscheinlichkeit, diese Orte zu erreichen, schien mir als Zehnjähriger anno 1994 circa gleich niedrig. Verwandte, Urlaub, Feierlichkeiten - wenn es irgendwo hinging, fuhren wir südwärts, nordwärts, ostwärts, aber niemals nach Westen. Ich kann mich nicht erinnern, bis dahin überhaupt bis Niedersachsen gekommen zu sein. Für mich war das Westfalenstadion ein sagenumwobener Ort, eine Parallelfabelwelt bekannt aus Zeitung und Fernsehen. Und dann eines Tages hieß es, wir fahren nach Köln. Bekannte aus dem Urlaub besuchen. Köln! Das war doch im gelobten Land, oder zumindest verdammt nah dran. Die Vorstellung, auf einmal Borussia so nah sein zu können, beflügelte mich. Sofort zerrte ich den großen ADAC Atlas hervor und siehe da, Dortmund lag sogar auf dem Fahrtweg! Das war meine Chance. Vielleicht die einzige, die ich je haben sollte, dachte ich in meiner kindlich verzerrten Perspektive. Eine große Sehnsucht stieg in mir auf nach diesem wabernden, neongelben Meer aus Menschen aus dem TV, den Durchsagen am Dortmunder Hauptbahnhof von meiner Bums Kassette, die Flutlichtmasten auf der Borussiafahne über meinem Bett - alles war auf einmal so nah. Meine Sehnsucht wechselte sich ab mit Angst, diese gefühlt einmalige Chance zu verpassen und es half wenig, dass meine Eltern eher mit Skepsis und wenig Anteilnahme auf mein Anliegen reagierten. Ich war so ehrfürchtig, dass ich die Idee, einem Spiel live beizuwohnen, nicht einmal bei meinen Eltern anklingen ließ. Aus Angst zu hoch zu pokern und mich zu verzocken, aber auch schlicht aus dem Grund, dass mich allein der Gedanke auf dem heiligen Boden zu wandeln und Hand an den Tempelbeton zu legen, genug euphorisierte. Ein Spiel hätte mich wahrscheinlich emotional überfordert.

So fuhren wir für vier Tage nach Köln. Es ging von Berlin über die A2 und A1 vorbei an Dortmund! In der Domstadt angekommen, war ich, bis auf ein paar wenig subtile Anspielungen auf den BVB, ganz der Musterjunge. Ich erließ ohne Murren sämtliche Aktivitäten über mich ergehen, spazierte überall mit, lauschte den langweiligen Anekdoten und war bis auf ein paar höfliche Nachfragen, wann wir denn nach Dortmund fahren würden, unsichtbar. Am dritten und vorletzten Tag unserer Reise dämmerte es mir langsam, dass meine Eltern keinerlei Anstalten machten, mit mir zum Westfalenstadion zu fahren. Ich war jung und in ihren Augen wechselhaft. Ein Jahr sind es Ritterburgen, dann Dinosaurier, nun also Borussia Dortmund. Auch das wird sich schnell wieder verlaufen, dachten sie einer ihrer größten Fehleinschätzungen. Mir war klar, dass drastische Maßnahmen ergriffen werden mussten und so trat ich in den Hungerstreik. Das Mittagessen ließ ich sausen - keinen Hunger. Meine Mutter nahm es so hin, ob meines bis dahin tadellosen Verhaltens. Als ich dann allerdings abends nach einem langen Bummel in der Kölner Innenstadt immer noch nicht essen wollte und mich nicht einmal von den zahlreichen Fastfood Restaurants verführen ließ, schwante ihr, dass etwas im Busch war. Erst war sie besorgt, dann wurde sie böse und schließlich wurde versucht, mich mit einem Besuch im Footlocker zu bestechen. Auf dem Schirm meines neuen Nike Basecap landete sofort ein BVB Sticker. Essen tat ich auch danach nicht. Meine Botschaft war klar. Ich ging ziemlich hungrig, aber kampfeslustig ins Bett. Morgen, am Tag unserer Rückreise, war meine beste und letzte Chance. Am Frühstückstisch ließ ich meinen Teller zunächst wieder unangerührt, bis mir meine Eltern endlich versicherten, dass wir auf dem Rückweg einen Abstecher nach Dortmund machen. Der Tag war gerettet! Das Frühstück schmeckte nun noch einmal so gut und ich schlang es vor Hunger und Antizipation herunter. Die nächsten Stunden waren wie in Trance. Die offenen Ecken, die Flutlichtmasten, die sagenumwobene Südtribüne, bald würde ich davor stehen. Lange vor der gelben Wand war das Westfalenstadion ikonisch. Wie sonst konnte es so eine Faszination auf Jungen wie mich ausüben. Noch vor dem Internetzeitalter und der Fußballdauerbeschallung war es durch mündliche Legendenbildung zum Sehnsuchtsort der wahren Fußballatmosphäre aufgestiegen. Die Eindrücke von damals wirken im Vergleich zum heutigen Tempel eher unspektakulär. Auf meinen Fotos steht ein grauer, kantiger Betonklotz vor grauem Himmel, auf grauem Parkplatz. Es gab keine Fanwelt und nicht einmal ein Büdchen hatte geöffnet. Plastikflaschen und leere Bierdosen rollten im Wind hin und her. Und doch gab es keinen schöneren Ort. In dezenten, rostroten Lettern schwebte “Westfalenstadion” über der Nordtribüne. Durch die offenen Ecken konnte man in die Herzkammer gucken, vom Platz bis zur Süd. Das Stadion wirkte imposant aber nahbar, dank der Ecken offen aber intim. Hier spielten sie, meine Helden, hier jubelten ihre Fans, die besten der Welt. Und ich stand nun mittendrin, beseelt und für alle Zeiten verbunden.

Ein paar Fotos später war ich bereit für die Abreise. In den folgenden 30 Jahren habe ich Borussia Dortmund vom Freunschaftsspiel in Erfurt bis ins Champions League Final in London begleitet, viele Heimschlachten und einige Auswärtschlachten geschlagen. Es gab rauschende Siege, bleierne Remis, und auch bittere Niederlagen. Der Faszination Westfalenstadion hat es keinen Abbruch getan. Distanzen können subjektiv sein. Als kleiner Junge schien ein paar Stunden Autofahrt ein unüberwindbares Hindernis. Heute lebe ich auf einem anderen Kontinent, 10.000 km entfernt von Dortmund und bin trotzdem jede Saison mehrmals im schönsten Stadion der Welt. Wenn ich dann in der roten Erde mit Bratwurst und Bier stehe und die Anspannung vor dem Spiel steigt, fühle ich mich wieder wie der kleine Junge von damals. Dieses magische Stadion, dieser Verein sind für mich, einen Berliner in Amerika, ein Stück Identität und Heimat geworden.

Dieser Text ist ein eingereichter Beitrag zum 50. Jubiläums des Westfalenstadions.