Rolf Fischer 

Die Geschichte der modernen Stadt und die Geschichte des Fußballs samt seiner Stadien sind auf vielfältige Weise verbunden. In den Städten ist der Fußball groß geworden und dort hat er sich in den 1920er-Jahren auch zu einem Teil der Alltags- und Massenkultur entwickelt. So spiegeln sich in der frühen Geschichte des BVB die Urbanisierung und das rasante Wachstum Dortmunds in der Zeit der Hochindustrialisierung in klarer Konjunktur.

Die sozialen Strukturen des Viertels vor den Toren des Eisen- und Stahlwerkes Hoesch, wo der BVB gegründet wurde, prägten den Verein in den ersten vier Jahrzehnten seines Bestehens. Bis Ende der 1940er-Jahre blieb der Ballspielverein ein nahezu reiner Arbeiterverein, dessen Spieler, Mitglieder und Fans bis auf einige wenige Ausnahmen vor den Toren des Hoesch-Werkes geboren wurden, dort aufwuchsen und in den umliegenden Fabriken, Werken, und Gruben ihre Arbeit und ihren Verdienst fanden. Wie fast alle Bewohner des Viertels rekrutierten sich auch die Spieler und Funktionäre des BVB weitestgehend aus Migrantenfamilien, die der Arbeit wegen nach Dortmund gekommen waren. Im Fußball und seinem lokalen Klub fand das Arbeiterviertel nicht nur ein Freizeitvergnügen, sondern auch eine die individuelle wie kollektive Identität prägende Leidenschaft.

Sonntags zogen die Bewohnerinnen und Bewohner des Hoesch-Viertels in großen Scharen zum benachbarten Borussia-Platz, den die Spieler und Mitglieder selbst inmitten von Feldern und Wiesen auf Bauernland an der Wambeler Straße hergerichtet hatten und wo selbst in Zeiten, als die Mannschaft noch zweitklassig spielte, häufig über 10.000 Zuschauer die Spiele gegen TBV Mengede oder den Nachbarn ÖSG Viktoria verfolgten. Die Arbeit in der Industrie, das Leben im rasch wachsenden Arbeiterviertel mit all seinen Sorgen und Nöten sowie die Leidenschaft für den BVB stellten so den identitätsbildende Dreiklang der Menschen rund um den Borsig-Platz dar. Der Rest der Stadt, vor allem die bürgerliche Stadtgesellschaft der „besseren Viertel“, interessierte sich zu jener Zeit indes kaum für den Verein und sein sportliches Abschneiden.

Als der Verein 1937 den Borussia-Platz, der auf gepachtetem Land lag, hergeben musste, weil das Hoesch-Werk expandieren wollte und der Hoesch-Park angelegt werden sollte, waren der Jammer und die Klagen über den Verlust groß. Obwohl die erste Mannschaft seit dem Aufstieg in die erstklassige Gauliga 1936 ohnehin meist im Stadion Rote Erde spielte, verloren die Mannschaften des Vereins nicht nur ihr Trainingsgelände, sondern das gesamte Viertel verlor ein prägendes Stück ihres Selbstverständnisses. Obwohl von Seiten der Stadt zugesagt, stellte sie dem BVB kein Stück Land und keinen neuen Platz im Umkreis des Borsig-Platzes als Ersatz zur Verfügung. Einige Zeitgenossen aus Reihen des Vereins waren der Meinung, die Schwierigkeit der seinerzeit regierenden Nazis, im Verein Fuß zu fassen und Posten im Vorstand einzunehmen, sei nicht zuletzt in der Wegnahme des geliebten Borussia-Platzes begründet gewesen, auf dem die traditionsreiche Geschichte des Vereins ihren Anfang nahm.

Im Stadion Rote Erde wurde der BVB zunächst nicht wirklich heimisch. Das lag auch daran, dass die Borussia bis Ende der 1940er-Jahre außerhalb des Hoesch-Viertels wenig populär war und in der Innenstadt sowie in den bürgerlichen Schichten Dortmunds kaum Anhänger fand. Dass änderte sich erst 1949 als der BVB zum ersten Mal in einem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft stand. Obwohl das Spiel gegen den VfR Mannheim in Stuttgart mit 2:3 verloren ging, bereiteten die Dortmunderinnen und Dortmunder der Mannschaft einen triumphalen Empfang. Eine kaum überschaubare Menschenmenge geleitete ihre „Helden“ durch die noch weithin in Trümmern liegende Innenstadt. Zum ersten Mal würdigte auch die politische Spitze der Stadt durch ihre Anwesenheit den Erfolg des Vereins, zuvor hatte man stets subalterne Beamte als Vertretung geschickt. Nun ließ Oberbürgermeister Fritz Henßler es sich nicht nehmen, beim Empfang der Mannschaft eine Rede zu halten, in der er betonte, dass der BVB nun endlich auch in „Groß-Dortmund“ angekommen sei. In der Tristesse und der Not der Nachkriegszeit fand die Stadtgesellschaft in ihrem erfolgreichsten Sportverein ein neues Objekt ihrer Zuneigung.

Die Vereinsführung war sich durchaus darüber bewusst, dass damit in der Geschichte des Vereins eine Ära enden und eine neue beginnen würde. Anlässlich des 40jährigen Jubiläums des BVB führte der Vereinsvorsitzende Heinrich Schwaben in der Jubiläumsschrift von 1949 aus: „Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß der Ballspielverein Borussia mit dem Borsigplatz verbunden und daß der Borsigplatz selbst die Keimzelle des Ballspielvereins Borussia gewesen ist. Als Traditionsträger soll auch weiterhin der Borsigplatz in unserer Vereinsgeschichte gewürdigt werden. Mit dem alten Brauch, nach dem Spiel zum Borsigplatz zu fahren und dort nach einem Sieg die Ehrenrunden zu absolvieren, darf nicht gebrochen werden. Aber eins darf nicht übersehen werden: Der Ballspielverein Borussia 09 ist aus der Enge des Borsigplatzes mittlerweile herausgewachsen. Das macht es nun zur Pflicht, daß unsere Mitglieder sich in mancher Beziehung – unbenommen der Tradition des Borsigplatzes – auf einer höheren Ebene bewegen müssen.“

Der BVB wuchs damit nicht nur aus der „Enge des Borsigplatzes“ heraus, sondern auch aus seinem ursprünglichen sozialen Umfeld. Und damit geriet der Fußball in Dortmund auf lange Sicht und mit den sportlichen Erfolgen des Vereins von einer in bürgerlichen Kreisen wenig geschätzten Sportart proletarischen Charakters zu einem weithin anerkannten Teil der Alltagskultur. Die beiden Deutschen Meisterschaften von 1956 und 1957 gaben diesem Wandel einen kräftigen Schwung: Plötzlich war der BVB fast Jedermanns Liebling. Selbst die Leitung des Hoesch-Werkes, die Jahrzehnte lang keinerlei Verständnis für die sportlichen Aktivitäten ihrer Mitarbeiter gezeigt und den Fußball mit Spielen und Training als der Arbeit abträglich bewertet hatte, sprach in ihrer Werkzeitschrift plötzlich von „unserer Mannschaft“ die „eigentlich eine Werksmannschaft“ sei.

Mit dem Umzug ins Westfalenstadion Mitte der 1970er-Jahre fand der BVB wieder eine Spielstätte die ähnlich dem alten Borussia-Platz ganz mit den Schwarz-Gelben und anders als die Rote Erde nur mit den Schwarz-Gelben verbunden wird. Und natürlich weiß auch das moderne Stadtmarketing die Beliebtheit des Vereins und des Stadions zu schätzen. Noch in den 1960er-Jahren veröffentlichte der Dortmunder Verkehrsverein Broschüren, in denen der BVB nicht einmal erwähnt wurde. Heute fehlt indes auf kaum einem Artikel des Dortmunder Stadtmarketings – in Hochglanzbroschüren, auf Taschen, Tassen und Postern – das Stadion mit seinem Markenzeichen, den weithin sichtbaren gelben Pylonen. Fast scheint es als hätten die in die Höhe strebenden Stahlträger die einst alles überragende Rolle der Kirchtürme im Stadtbild eingenommen. Wer sich aus dem hügeligen Süden der Stadt näherte und nähert, sah einst schon weitem nur diese Kirchtürme, dann sah er für über ein Jahrhundert vor allem die Schlote der Schwerindustrie und die Fackel des Hörder Stahlwerkes, seit dem Stadionausbau 2002 aber fallen neben dem Florian als erstes die gelben Stahlträger des neuzeitlichen „Tempels“ in den Blick.

Das Westfalenstadion ist mittlerweile neben dem Fernsehturm, der Reinoldikirche oder dem U-Turm eines der Wahrzeichen der Stadt, wahrscheinlich sogar das bekannteste und beliebteste Wahrzeichen. Als „Urban Icons“ werden solche Wahrzeichen in der modernen Stadtgeschichte bezeichnet und es stellt sich die Frage, woraus die Suggestiv- und Strahlkraft solch ikonischer Bauten resultiert. Neben der Architektur, ihrer Qualität und Besonderheit, sind dabei vor allem auch sozio-kulturelle Faktoren zu beachten. Dies gilt für ein Fußballstadion im Ruhrgebiet in besonderem Maß, da in der historischen Entwicklung der Industrieregion dem Fußball eine größere Bedeutung zugekommen ist, als es in Großstädten mit langer Tradition und ausgeprägter bürgerlicher Identität ihrer Bewohnerinnen und Bewohner der Fall war.

Das Stadion ist ein Ort, an dem die Emotionen alles andere in den Hintergrund drängen. Alle sind „Dortmunder Jungs“, jene, die sich unten auf dem Rasen für den Erfolg des Vereins und die Ehre der Stadt ins Zeug legen, und jene Jungs und Mädels, die sie von den Rängen dabei unterstützen. Wie der alte Borussia-Platz so ist auch das Westfalenstadion ein Ort, an dem das Zusammengehörigkeitsgefühl zumindest eine Zeit lang alles andere überlagert und in bestem Sinn integrativ wirkt.

Dieser Text ist ein eingereichter Beitrag zum 50. Jubiläums des Westfalenstadions.