Ich trage deshalb immer mein allererstes Trikot. Gewaschen wird es bestenfalls einmal im Jahr, was aber nicht schlimm ist, weil ich ja keine Flecken drauf mache. Damit sind wir schon beim Senf-Orakel. Das gab es seit 2013 und bis, ja bis Corona. 

Dieser Text ist ein eingereichter Beitrag zum 50. Jubiläums des Westfalenstadions.

Wenn man jede Woche eine Wurst isst, lernt man irgendwann, die richtige Bratwursthaltung einzunehmen. Leicht vorgebeugt, damit nichts auf die Kleidung tropft. Also kleckst es auf den Boden. Nach einer Weile habe ich angefangen, das zu fotografieren. Wir fragten uns in der Gruppe, ob die Flecken eine Bedeutung hätten oder man nicht etwas da reininterpretieren könnte. Nach ein paar Monaten war der Brauch etabliert. Das Orakel hat übrigens immer recht, wir interpretieren es nur ständig falsch. Hat der Ketchup-Anteil einen positiven oder negativen Einfluss? Gibt es Multiplikatoren? Welche Rolle spielt die Anzahl der Personen? 

Unbewusst nehmen wir vielleicht auch Einfluss auf das Ergebnis. Einer aus der Runde hatte einen immensen Senfkonsum. Das führte aber nach meiner Ansicht nach nicht unbedingt dazu, dass er erfolgreicher kleckert. Der Senf hat seinen eigenen Willen. Ich glaube, wenn man nur ein bisschen drauf tut, kann das eine Menge klecksen und umgekehrt. Was bei mir niemals auf die Wurst kommen würde, ist Ketchup. Das schmeckt mir nicht, und ich vermute, dass die rote Sauce das Ergebnis nicht unbedingt positiv beeinflusst. 

Die ganze Aktion war zwar kurzzeitig eine große Sauerei, die Flecken, die dabei entstanden, wurden jedoch von 80.000 Fans mit den Schuhen ins Stadion getragen und dort verewigt. 

Die Tradition hinter dem Orakel ist schon um einiges älter. Nobbi und ich haben uns über ein Filmprojekt kennengelernt und angefreundet. Bei der Siegerwurst bin ich seit 2008 dabei. Anfangs waren wir meist zu dritt, heute sind wir im Schnitt sechs bis acht Leute. Das macht es unterhaltsam, aber auch hektisch. Zumal ja alle paar Minuten jemand ein Unsie mit den Held von Berlin machen will. Wir treffen uns immer zwei Stunden vor Anpfiff, bei jedem Heimspiel, egal ob Pokal, Liga oder Champions League, egal ob Samstag, Sonntag oder Mittwoch. Anfangs standen wir noch bei Strobels am Wurststand. Später hatte der BVB einen eigenen Stand, über die Jahre haben wir uns an den verschiedensten Ecken des Dortmunder Stadions rumgetrieben. Weit weg konnten wir ja ohnehin nie, da viele der Jungs und Mädels aus der Runde beim BVB arbeiten und an so einem Spieltag natürlich extrem eingespannt sind. Und Nobbi sowieso. 

Für mich war es gar nicht so einfach, immer pünktlich da zu sein. Ich kam oft von Kassel angefahren, das dauert je nach Verkehr zwei bis zweieinhalb Stunden. Ich musste immer früher da sein, weil die Wurstbude innerhalb der Stadionabsperrung steht. Und ich musste natürlich irgendwo parken. Zu spät war ich aber nie, ich verpasste auch höchstens ein bis zwei Partien pro Jahr, wenn ich meinen Urlaub wieder mal falsch geplant habe. 

Das Spiel selbst habe ich mir im Stadion nie angesehen. Das ist vor einigen Jahren so gekommen, als ich mal zwei Spiele angeschaut habe und Dortmund beide verlor. Da sagte ich zu Nobbi: »Ich glaube, ich tue dem Spiel nicht gut.« Er antwortete mir: »Kein Problem, dann hast du jetzt Stadionverbot.« Also fuhr ich nach der Wurst heim und hörte mir das Spiel im Netradio an. Auch heute schreibe ich Nobbi dann Nachrichten bei WhatsApp. So unterhalten wir uns während der Partie. Und von Zeit zu Zeit baut er meine Nachrichten auch in seine Kommentare ein. Auch eine Form der Kommunikation.

Aber, das war eine und ist leider inzwischen Geschichte. Corona hat auch dieser wundervollen Tradition den Garaus gemacht. Jetzt bleibt mir »nur« das Netradio, die Wurst-Tradition ist auf der Strecke geblieben.

Tom Weitzmann