Ich bin nun 25 Jahre alt - nicht in Dortmund geboren, noch dort aufgewachsen. Ich lebe von Dortmund hunderte Kilometer entfernt, aber wenn ich aufzählen müsste, welche Orte meine Jugend geprägt haben, würde ich nicht an Dortmund vorbeikommen können. 

Dieser Text ist ein eingereichter Beitrag zum 50. Jubiläums des Westfalenstadions.

Mein erstes Einstimmen auf der Süd mit 14 Jahren, magische Nächte gegen die Los Blancos um Cristiano Ronaldo, hitzige Duelle gegen die Gunners aus London, Siege gegen die Roten aus dem Süden, samstags 18:30 Uhr oder auch donnerstags 20:45 Uhr, ich habe dieses Stadion schon in seinen schönsten aber auch in seinen dunkelsten und traurigsten Stunden erlebt. Sogar als der Abstieg drohte oder die Macht der Roten mal wieder zu hoch war. Tage, an denen man beim Strobels die Mannschaft gelobt aber auch kritisiert hat. An denen man mit breiter Brust aus dem Stadion ging, oder auch mit gesenktem Kopf in die Bahn einstieg. Viele dieser Tage habe ich zusammen mit meinem Vater erlebt.

Doch wenn es einen Tag gibt, der für mich auf ewig unvergesslich bleibt, ist es der 27. Mai 2023. Dieser Tag war für mich einer der schwersten, aber auch schönsten Tage. Wie das gehen kann, fragt ihr euch?

Fußball ist (oft) eine Sache für Väter und Söhne. Jeder erinnert sich an das erste Spiel mit seinem alten Herrn, kann sich an den Gegner, den Block, den Spielstand, die Torschützen und sogar den Geruch der Bratwurst erinnern. Für mich und meinen Vater wurde der BVB ein Bindestück unserer Beziehung. Egal welchen Streit man ausdiskutieren musste, egal welche schlechte Schulnote die Stimmung gekippt hatte, sobald der Ball rollte und man zusammen vorm Fernseher saß oder im Block stand, waren all die Streitigkeiten vergessen. Denn das ist die Magie am Fußball - es ist die unausgesprochene Liebe zwischen Vätern und Söhnen die man beim Zittern, Bangen und Jubeln spüren kann. Wie Herr Watzke es in seiner Biografie beschrieb: Es sind die großen Gefühle, die im alltäglichen Leben einer gefühlsarmen Zeit oft keine Rolle spielen und kaum Raum haben, welche im Stadion ihren freien Lauf nehmen.

Doch man wird älter, geht seinen eigenen Weg und sieht seinen Vater nur noch alle paar Wochen, wenn nicht sogar Monate. Man bespricht ein Spiel nicht mehr zusammen im Garten, sondern am Handy.

In der Rückrunde konnte mein Vater nicht beim Heimspiel gegen Frankfurt dabei sein, weshalb ich versuchte uns Tickets gegen Mainz zu holen, was mir auch tatsächlich gelang. Ein Spiel noch zusammen sehen, fühlen und mitfiebern, bevor unsere Wege sich durch den Alltag wieder trennten. Zu diesem Zeitpunkt war die Meisterschaft für uns beide noch ein unwahrscheinlicher Traum. Doch dann, am vorletzten Spieltag, bekam der Energydrink aus Leipzig Flügel und brachte uns Hoffnung auf den langersehnten Titel. 2 Punkte Vorsprung auf die Bayern und nur noch ein Saisonspiel. Ein einziger Sieg fehlte uns noch und ein langersehnter Traum ginge in Erfüllung. Wir hatten kein Hotelzimmer zur Übernachtung bekommen, doch das Auto sollte uns hierfür reichen. Am Sonntag nach dem Spiel noch auf dem Borsigplatz mit der Mannschaft feiern – das war unser Ziel. Um 5 Uhr morgens losgefahren und nach 4 Stunden endlich in Dortmund angekommen, trafen wir Freunde am Maximilian und fingen direkt an zu feiern. Die Stadt in völliger Extase, so etwas hatten wir noch nie erlebt. Gemeinsam mit der Truppe auf den Marsch zum Stadion, spürte man, dass etwas Besonderes in der Luft lag. Man konnte es fast schon greifen. Wir haben diese Stimmung ins uns aufgesaugt - einen dieser Vater-Sohn-Momente, die immer seltener werden, je älter man wird.

Am Stadion angekommen noch das letzte Bier an der Roten Erde getrunken, dann ging es rein in den Tempel – Nordtribüne, Block 63, Stehplatz mit perfektem Blick auf die Süd. Die Gänsehaut-Stimmung unbeschreiblich, das Feuer von der Süd, die Energie strömte aus allen Himmelsrichtungen auf uns ein.

Beim Einlauf der Mannschaft halte ich meinen Vater im Arm, so wie er mich im Arm hielt, als ich noch ein Junge war. Ich sage zu ihm: „All die Jahre so kurz vor dem Ziel gescheitert, aber heute ist es so weit Papa. Heute werden wir Geschichte miterleben.“ Letzteres sollte sich >>leider<< bewahrheiten. Es war der erste ausgelassene Vater-Sohn-Moment, nachdem mein Vater ein paar Monate zuvor, seine Mutter und Schwester verlor. Meine Oma und Tante sind aus dem Nichts von uns gegangen und hinterließen eine schmerzliche Leere in uns. Es war dieser 27. Mai, an dem wir unseren Gefühlen endlich wieder freien Lauf lassen konnten, nach dieser schweren Zeit.

Anstoß und der Ball rollt. „Es ist angerichtet!“, sagt mein Vater mit schon heiser Stimme und schaut mir mit Zuversicht in die Augen. Die Stimmung atemberaubend, mitreisend, elektrisierend, unaufhaltsam oder einfach UNBESCHREIBLICH! 15 Minuten später sind wir bereits zwei Tore von der Meisterschaft entfernt, doch das Stadion explodiert als lägen wir in Führung. Keiner ließ den Kopf hängen, keiner verstummte, keiner fluchte. Jeder war mit Feuer und Flamme dabei, denn es ging nur nach vorne. Die Geschichte nahm seinen Lauf und man lag zur Halbzeit mit 0:2 hinten. In den Gängen, in den Toiletten und an den Bierständen schaute sich fremde Männer und Frauen nur mit einem Blick an und jeder dachte dasselbe – Malaga! Es muss wieder passieren, diese Magie. Wir glaubten alle dran.

In der 69. Minute explodierte das Stadion als die Kugel durch Guerreiro im Netz landete, denn es war wieder möglich, man glaubte dran. In der 79. Minute schreit Nobby das 1:1 aus Köln ins Stadion und die Menge tobte. Doch die Freude hielt nicht lange an. Das 2:1 der Bayern machte im Block die Runde und wir wussten alle, jetzt müssen zwei Tore her. Auch wenn Niklas seinem Namen als Sülinho mit einem sensationellen Tor zum 2:2 gerecht wurde, war die 96. Spielminute leider zu spät für den Ausgleich. Dem BVB fehlte am 27. Mai 2023 nur ein Tor zur Meisterschaft. Der Traum aller Borussen war geplatzt!

Das Spiel abgepfiffen, die Spieler am Boden, die Schale ging in den Süden – doch das Stadion blieb voll. Entsetzte Gesichter, wo man nur schaute, Tränen in jedem Block und auch auf dem Rasen. Anstelle vom Platzsturm gab es Stille auf den Rängen, doch die hielt nicht lange an. Ich war in der Hocke, dem Boden nahe, fassungslos und am Boden zerstört. Mein Vater hielt mich und tröstete mich damit, ohne nur ein Wort zu sagen. Doch dann hörte ich sie, die Süd. Ich hörte, wie die Jungs ihre Lieder anstimmten, wie sie ihren eigenen Schmerz ignorierten und diese Mannschaft aufbauten. Es dauerte keine Minute, da sang das ganze Stadion mit. 20 Minuten vergingen und das Stadion war noch immer voll.

„Ich würde vieles aufgeben, um Marco Reus endlich mit der Schale zu sehen“ sagte ich zu meinem Vater, als das ganze Stadion seinen Namen rief. Zu sehen, wie mein Kindheitsidol im Herbst seiner Karriere am Boden liegt und später mit Tränen das Stadion verlässt, das kann keinen erwachsenden Mann oder Frau kalt lassen.

Die Minuten vergingen, die letzte Träne vergossen, doch wir Dortmunder sind geblieben. Und da sitzt man nun, mit seinem Vater auf dem Wellenbrecher, die Meisterschaft verloren und trotzdem historisches erlebt. Aber für mich war nicht der Meisterkampf der vergangenen Wochen historisch, sondern der Zusammenhalt dieses Vereins. Dieser Moment mit meinem Vater, Arm in Arm, Träne um Träne auf der Stange zu sitzen, die Süd und die Mannschaft zu sehen, das war echte Liebe. Echte Liebe zum Verein aber auch die unausgesprochene Liebe zwischen Vater und Sohn. Auch wenn ich mir auf Ewig einen schöneren Ausgang für diesen Tag wünschte, will ich diesen Tag nie vergessen, denn dieser Tag war für mich:

Die Wiedergeburt von „Echte Liebe“.

Devin Aksu