Als Handball-Vize Andreas Bartels am 1. September 2019 in der Sporthalle Wellinghofen den Kader für die Saison 2019/20 der Öffentlichkeit und den Fans präsentierte, konnte noch niemand ahnen, welche Turbulenzen, ausgelöst durch ein Virus namens Corona, die folgenden beiden Spielzeiten bestimmen, ja, entscheidend beeinflussen würden.
Im Jahr zuvor hatte der BVB wegen der überfälligen Sanierungsmaßnahmen der städtischen Halle „Am Lieberfeld” zu DO-Wellinghofen in Herdecke und - bei internationalen Partien - in Hamm antreten müssen. In beiden Städten war man hervorragend aufgenommen worden!
Der aktuelle Kader wies einmal mehr interessante neue Gesichter auf. Wieder war es den Verantwortlichen Andreas Heiermann und Andreas Bartels gelungen, die Mannschaft mit weiteren nationalen und internationalen Spitzenakteurinnen qualitativ zu verstärken. So kamen beispielsweise aus den Niederlanden Kelly Dulfer und Inger Smits hinzu.
Clara Woltering hatte ihre aktive Zeit beendet und gehörte jetzt als Torwarttrainerin zum Team des neuen Chef-Coaches André Fuhr, der schon seit geraumer Zeit auf der Wunschliste der Borussia ganz oben gestanden hatte. Die Bundesliga-Spielzeit lief wie „geschmiert.” Lediglich einer einzigen Niederlage gegen Metzingen (24:28) standen 18 gewonnene Spiele, zu denen auch die Partie gegen den amtierenden Deutschen Meister Bietigheim gehörte, gegenüber.
Und dann kam im Frühjahr 2020 Corona, und alles war anders als jemals zuvor. Die Pandemie setzte einschneidende eigene Akzente. Millionen Menschen auf der Welt wurden infiziert, Hunderttausende ließen ihr Leben. Alle Bereiche des Lebens, so auch der Sport, waren rund um den Globus betroffen.
Saison wird vorzeitig abgebrochen
Um die Bundesligasaison im Handball fortsetzen zu können, gleichzeitig aber Ansteckungsgefahren weitgehend zu minimieren, wurden auch beim BVB akribisch Sicherheitskonzepte ausgearbeitet, die sowohl für die Spielerinnen als auch für das Publikum galten. Mitte April 2020 dann das Aus für die gesamte Spielzeit. Und für Borussia Dortmund ein Schlag ins Gesicht: Während Kiel bei den Männern zum Deutschen Meister erklärt wurde, entschieden die Verantwortlichen für die Damenliga, an der Spitze der frühere Nationaltorwart „Hexer” Andreas Thiel, dass es hier keinen Meister geben würde.
Der BVB war enttäuscht und fühlte sich, wie es Abteilungsleiter Andreas Heiermann in einem Interview ausdrückte, schlicht und ergreifend „diskriminiert!” Denn aus der Sicht der Borussia war die Situation bei den Damen und bei den Herren praktisch identisch. Unter diesen Umständen Kiel den Titel zuzusprechen und dem BVB nicht, war kaum nachvollziehbar.
So dachte auch Dortmunds damaliger Oberbürgermeister Ullrich Sierau, in seiner Jugend selber Handballtorwart, und schrieb einen offenen Brief an Thiel mit der Aufforderung, die Entscheidung zu überdenken und aus Gründen sportlicher Fairness den BVB ebenfalls mit dem verdienten Meisterpokal auszuzeichnen. Es half alles nichts. Eine meisterliche Spielzeit der Borussinnen verlief durch eine wenig meisterliche Entscheidung ohne die verdiente Krönung. Ein kleines Trostpflästerchen: Tabellenführer Borussia Dortmund wurde für die Champions League Saison 2020/21 nominiert.
Die Bundesligasaison 2020/21 ist als „Gesamtkunstwerk” eine einzige „Ode an die Freude!” Es wurde eine Spielzeit wie eine Beethoven-Symphonie. Und der Dirigent hieß André Fuhr, der aus seinem „Orchester” schönste Melodien hervorzauberte. Es begann mit einem souveränen Auftaktsieg gegen Buchholz-Rosengarten. Und dann folgten Siege, Siege, Siege. Kein einziges Spiel wurde verloren, kein einziges Pünktchen abgegeben. Derartiges hat die Handballgeschichte noch nicht erlebt. Als Ende Oktober 2020 selbst Bietigheim auswärts mit 28:22 geschlagen wurde, zeichnete sich ein grandioser Durchmarsch ab, der dann auch Realität wurde!
Der Kombinationssicherheit, den Tempo-Gegenstößen, der Geschwindigkeit des Spiels generell, dem trickreichen Anspiel am Kreis, dem konsequenten Abwehrverhalten und den gefährlichen Würfen aus der zweiten Reihe hatten die Gegnerinnen in aller Regel kaum etwas entgegenzusetzen.
Eine besondere Klippe außerhalb des Spielfeldes war allerdings noch zu überwinden. So musste das Team nach dem gewonnenen Rückspiel gegen Bietigheim in Dortmund bis Anfang Mai in Corona-Quarantäne gehen, was insgesamt zu einer einmonatigen Spiel- und Trainingspause führte. Das konnte durchaus zu Problemen in der mannschaftlichen Geschlossenheit und im Spielfluss führen. Aber nicht beim BVB!
Erste Deutsche Meisterschaft
Die Damen zeigten sich unbeeindruckt und siegten am 5. Mai in der Halle Wellinghofen gegen den Thüringer HC mit 39:29. Drei Tage später, am 8. Mai 2021, kam dann der bislang größte Tag in der Geschichte des Dortmunder Handballsports: Die Borussinnen traten in Halle gegen die Union Halle-Neustadt an und gewannen souverän mit 39:22. Zum ersten Mal in der Club-Historie wurde damit vom BVB im Handball eine Deutsche Meisterschaft gewonnen. Und was für eine! Man hatte jetzt bei drei noch ausstehenden Spielen sieben Punkte Vorsprung vor Bietigheim und war bis zum Saisonende nicht mehr einzuholen.
Die frischgebackenen Meisterinnen sorgten unmittelbar nach dem Schlusspfiff mit Jubelarien, Freudentänzen und Polonaisen auch für eine meisterlich-ausgelassene Stimmung in der „Halle zu Halle” und selbst die obligatorische Sektdusche durfte nicht fehlen. Andreas Heiermann und André Fuhr war in den anschließenden Interviews die Freude über das Erreichte ebenso wie ihre Erleichterung sichtlich anzumerken. Auf der Bus-Rückreise nach Dortmund ging die Siegesfeier munter weiter, und als gegen drei Uhr in der Früh der Borsigplatz erreicht und in klassischer Manier umrundet wurde, war ein weiterer Höhepunkt gekommen.
Das folgende Auswärtsspiel gegen Bad Wildungen verlief in der ersten Halbzeit aus der Sicht des BVB ausgesprochen zäh. Die Gastgeberinnen hingegen freuten sich über ein Spiel fast auf Augenhöhe. In den zweiten 30 Minuten allerdings hatten die „Vipers” nichts mehr entgegenzusetzen und unterlagen mit sieben Toren Unterschied (30:37).
Als Alina Grijseels am Samstag, dem 22. Mai 2021, 19.24 Uhr, kurz nach der letzten Heimpartie gegen die Neckarsulmer Sport-Union aus den Händen von Andreas Thiel, dem Chef der Bundesliga der Frauen, den Meisterpokal entgegennahm, war sie im wahrsten Sinne des Wortes „völlig losgelöst“. Ihr eleganter Freudensprung mit dem Pokal hoch über dem Kopf war eine abrundende Spitzenleistung an diesem Tag. Zuvor hatte ihr Team die Damen aus Neckarsulm mit 42:24 bezwungen und einmal mehr seine außergewöhnliche Klasse dokumentiert.
Doch jetzt stand der Meisterpokal im Blickpunkt. Alle Spielerinnen ließen sich damit „für die Ewigkeit“ ablichten und auch Präsident Dr. Reinhard Rauball und Abteilungsleiter Andreas Heiermann reckten das „Objekt der Begierde“ voller Freude in die Höhe! Die Titelträgerinnen hatten sich mit Krönchen geschmückt und streiften gern das Shirt mit der Aufschrift „Deutscher Meister 2021“ über. Diese herrliche Aussage fand sich auch auf überdimensionalen Bannern und Schrifttafeln in der Halle Wellinghofen wieder. Dr. Reinhard Rauball sprach sogar mit Blick auf den DFB-Pokalsieg und die errungene Handball-Meisterschaft von der erfolgreichsten Woche in der Geschichte des BVB!!
Anschließend wurden die acht Spielerinnen, die den BVB zur nächsten Spielzeit verlassen werden, mit Blumen und Dankesworten verabschiedet. Den quantitativen und qualitativen Aderlass zu kompensieren, wird keine leichte Aufgabe sein.
Über 1.000 Tore und keine Punkte abgegeben
Jetzt lag nur eine eine einzige Aufgabe vor den Borussinnen: die Nachholpartie am Dienstag, dem 25. Mai 2021, gegen Blomberg/Lippe, den aktuellen Tabellendritten. In Blomberg hatte André Fuhr vor Jahren seine eindrucksvolle Karriere als Trainer begonnen. In den Reihen der Gastgeberinnen befand sich mit Nele Franz die „Bundesliga-Spielerin der Saison 2020/21.“
Der BVB ging das Spiel konzentriert an, Blomberg hielt dagegen. Man merkte allerdings, dass es das erklärte Ziel der Schwarz-Gelben war, auch dieses Match zu gewinnen und damit die Spielzeit ohne Gegenpunkte abzuschließen. Auf dem Wege zu dem letztlich ungefährdeten 29:38 zugunsten des Gastes erzielte Mannschaftskapitänin Alina Grijseels mit ihrem Siebenmeter zum 15:9 das 1.000ste Saisontor ihres Teams.
Es war geschafft! Borussia Dortmund hatte nicht nur die Deutsche Meisterschaft gewonnen, sondern dabei auch keine Niederlage kassiert, nicht einmal ein Unentschieden! 30 Siege in Folge (Ein wegen Corona nicht ausgetragenes Spiel wurde regelkonform zugunsten von Schwarz-Gelb gewertet.)
Null Gegenpunkte in der Saisonabrechnung. Eine Meisterschaft mit über tausend Toren. Diese sportliche Einmaligkeit reiht sich BVB-historisch ein in die große Phalanx der Fußball-Erfolge mit der Deutschen Meisterschaften 1956 und 1957 in identischer Aufstellung, den Siegen im Europapokal 1966 und in der Champions League 1997 sowie dem „Double“ in Meisterschaft und Pokal 2012.
In der Champions League lief es erwartungsgemäß in der Premierensaison zunächst nicht ganz so rund. Man musste in der Hinrunde Lehrgeld zahlen. Im weiteren Verlauf zeigten die Borussinnen ihre Klasse aber auch auf dem internationalen Parkett, sodass das Achtelfinale erreicht werden konnte. Wegen der Corona-Situation in der Mannschaft des Gegners Metz verzichtete der BVB mit Rücksicht auf die Gesundheit der Spielerinnen auf die beiden Begegnungen im neutralen Nancy in Frankreich und wurde aus dem Wettbewerb genommen.
Ein bitterer Wermutstropfen fiel in das Glas der erzielten Erfolge, als im Frühjahr 2021 Kelly Dulfer, die gemeinsam mit Inger Smits nach Saisonschluss zu Bietigheim wechseln wird, in einer holländischen Zeitung gegen ihren Trainer André Fuhr schoss. Fuhr und der BVB-Handballvorstand gingen betont professionell mit den Turbulenzen um, hielten den Ball flach und ordneten alles dem angestrebten Ziel „Meisterschaft” gekonnt, sprich erfolgreich, unter.